Seelsorge in der Nachfolge Jesu
Eine Meditation zu Lukas 24,13-35
Da blieben sie traurig stehen ... Ihre Augen wurden gehalten, daß sie ihn nicht erkannten.
Das ist eine treffende Beschreibung für die Situation der Menschen, die des Seelsorgers bedürfen: ihre menschliche Entwicklung ist unterbrochen, sie bleiben traurig stehen auf ihrem Lebensweg, sie können ihre Umgebung, die Realität, nicht mehr richtig erkennen, sie sind gefangen und gehalten von großer Traurigkeit, Ratlosigkeit und Verzweiflung.
Da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen.
Der erste Schritt in einer seelsorglichen Beziehung sollte von großer Behutsamkeit bestimmt sein: sich nähern, den anderen in seiner Not wahrnehmen, ein Stück weit mitgehen, aufmerksam zuhören.
Wichtig dabei ist, daß ich mir meiner selbst bewußt bin, wenn ich mich dem anderen nähere, um mit ihm ein Stück weit mitzugehen. Weder er noch ich sollen in Angst oder Verlegenheit geraten. Das setzt Selbsterfahrung voraus und eine gewisse Gelassenheit.
Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Reden, die ihr zwischen euch handelt unterwegs ... Und er sprach zu ihnen: Was denn?
Durch behutsames Fragen wird erreicht, daß der Seelsorge-Bedürftige sich seine Probleme von der Seele reden kann. Sprache befreit aus Unbegriffenem, bringt wieder in Fluß, was vorher gehemmt oder verstopft war. Seelsorge ist vor allem Hilfe zum Gespräch.
Und er legte ihnen in der ganzen Schrift aus, was darin von ihm gesagt war.
Das Gespräch allein heilt den tiefen Schaden freilich nicht. Es kommt darauf an, den Sinn in all dem Unbegriffenen und vermeintlichen Unsinn zu erkennen, also tiefer zu verstehen, was geschieht, und bereit zu sein zur Annahme. Seelsorge ist auch Verstehenshilfe und Sinndeutung.
Allerdings verfügt der Seelsorger nicht über den Sinn, er stiftet ihn nicht, sondern er ist vorgegeben in der beide, Seelsorger und Ratsuchenden, umfassenden Wirklichkeit Gottes. Diesen Sinn gilt es, gemeinsam im Gespräch zu finden. Der Seelsorger kann dabei wie ein Pfadfinder tastend vorangehen. Der Sinn wird sich erst auf dem Wege gemeinsam erschließen.
Und sie kamen nahe zu dem Orte, da sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.
Seelsorge als Gespräch und Verstehenshilfe führt ganz in die Nähe des angestrebten Ziels. Manchmal können die Menschen die weiteren Schritte dann allein gehen. In einem solchen Fall ist es wichtig, daß der Seelsorger den Ratsuchenden losläßt und sich nicht weiter aufdrängt. Es geht ja nicht um ihn und seine Bedürfnisse nach Dauerkontakt oder einer perfekten Lösung. Es geht um Ermöglichung und Befähigung zu für den Ratsuchenden. Deshalb ist es wichtig, zwischendurch probeweise loszulassen, um zu sehen, wie weit der andere ist.
Genügt die bisherige Seelsorge durch Gespräch und Verstehenshilfe allerdings nicht, heißt es nun, die Herausforderung zu einer helfenden Beziehung, zu einer Partnerschaft auf Zeit als Reifungshilfe anzunehmen und dem Ratsuchenden eine Zeitlang als ganzer Mensch nahe zu sein.
Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.
Jesus gibt sich den beiden Jüngern ganz, allerdings symbolisch vermittelt im Essen und Trinken, das an das letzte Mahl miteinander erinnert. Das zeigt, wie wichtig es ist, die richtige Ebene zu finden, um den anderen zu sättigen und ihm eine Nachreifung zu ermöglichen. Es gibt Formen der ganzheitlichen Hingabe, die eher auf frühkindlichen, unreifen Ebenen fixieren, statt eine befreiende Entwicklung zu initiieren. Die zeitweilig gewährte Regression muß immer im Dienste der Progression stehen.
Und er verschwand vor ihnen.
Es ist sehr wichtig, über die angemessene Lösung der seelsorglichen Beziehung nachzudenken. Beide Seiten müssen damit leben können, daß ein wichtiges Stück gemeinsamen Weges nun zu Ende gegangen ist. Gerade die Lösung einer zwischenmenschlichen Beziehung bedarf der Aufhebung im religiösen Raum. Die gemeinsame Bindung an Gott wird die Trennung erleichtern. Das verbindende Dritte bewahrt die Lösung einer Beziehung vor dem Rückfall in Mißtrauen und Zweifel.
Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns ... Und sie standen auf zu derselben Stunde ... Und sie erzählten ihnen, was geschehen war.
Das ist das Ziel der Seelsorge: ein lebendiges Herz; die Kraft, aufzustehen und hinzugehen ins Leben zu den Menschen; wahrnehmungsfähig und mitteilsam zu werden.
Erst im Hingehen und Leben wird deutlich, daß die ursprüngliche Hemmung, das Traurig-Stehenbleiben, überwunden ist.
Zuerst vorgetragen im Rahmen eines Seelsorgekurses für Vikare der Region Schleswig am 6. September 1983 im Gemeindehaus auf dem Michaelisberg in Schleswig, inspiriert von einem Text von Joachim Scharfenberg: Seelsorge als Konflikthilfe; als Strukturentwurf für den Grundkurs eingebracht in die Arbeit am Projekt "Sterbende begleiten - Seelsorge der Gemeinde" in den Jahren 1988-1993 im Gemeindekolleg der VELKD in Celle (Celler Modell); veröffentlicht in: Andreas Ebert/ Peter Godzik (Hg.), Verlaß mich nicht, wenn ich schwach werde. Kursleitungs-Handbuch für das Projekt "Sterbende begleiten - Seelsorge der Gemeinde", Hamburg: E.B.-Verlag 2003, S. 15-17.