Zeitgedanken in Barlachs frühen literarischen Arbeiten
Zum literarischen Frühwerk Ernst Barlachs
Von Joachim Kruse
In: Nordelbingen. Beiträge zu Kunst- und Kulturgeschichte, Band 34, Heide in Holstein 1965 (Auszüge; der gesamte Aufsatz findet sich hier).
Barlach ist bereits Legende. Noch mehr als der "eigentliche Barlach" ist es der "Barlach avant Barlach" (Stubbe). Die Legendenbildung geht zum Teil auf Ernst Barlach selbst zurück, dessen schöpferisches Ingenium unablässig an seinem Leben schuf und daran dichtete. In letzter Zeit wird die Frage nach Barlachs Ursprüngen immer dringlicher gestellt: wie hat sich seine "zweite Geburt" (Hofmannsthal) vorbereitet?
Erwartungsvoll sieht man gerade im Hinblick auf diese Frage der großen Ausgabe der Barlachschen Briefe entgegen. Mit ihr wird Friedrich Droß einen wesentlichen Beitrag zur Klärung auch der frühen Entwicklung Barlachs geleistet haben. In gleicher Richtung haben u. a. Muschg, Stubbe und Jansen gewirkt.
Mit auffallender Beharrlichkeit konzentrierte sich die künstlerische, literarische und weltanschauliche Kritik in der Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts u. a. auf folgende Probleme: noch immer auf die Arbeiten Zolas und vor allem Ibsens und auf Wagners Musik, auf Bayreuth, frisch und mit Leidenschaft auf das wachsende Werk Hauptmanns, aber auch Strindbergs, interpretierend auf Nietzsches Schriften; dazu auf die soziale Frage und die Sozialdemokratie und auf Marx, dessen drittes Buch des "Kapital" 1894 erschien; auf die Frauenfrage, auf Vererbung und Milieu, auf die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft und den Okkultismus; schließlich auf Paris.
An diesen Fragen schieden sich die Geister. Von den Fortschrittlichsten, die sich gruppiert hatten und immer stärkeren Einfluß auf die öffentliche Meinung gewannen, wurde der Anbruch einer neuen Zeit mit Sehnsucht erwartet, umso mehr, als man fühlte, daß eine alte zu Ende gegangen war und daß man im Tal stand. "Neue Glücksideale und goldene Zukunft einer ehrlicheren Menschheit: Sie muß kommen, denn sie lebt in unserer Brust."
Mit diesem Satz hat Barlach in Paris am 21. September 1895 seinen Platz im Kampf um die Moderne selbst bestimmt. Der Satz kam nicht aus heiterem Himmel: er setzte Einverständnis, Mittäterschaft voraus. Es soll mit einer Auswahl von Zitaten gezeigt werden, wie die Gedanken der Zeit in Barlachs frühen literarischen Arbeiten, zeitlich durch seine beiden Reisen nach Paris 1895 und 1897 begrenzt, reflektiert werden.
Zwei Monate bevor Barlach im April 1895 nach Paris fuhr, hat er Zolas Buch "Lourdes" gelesen, das im Herbst 1894 gleichzeitig in Frankreich und, übersetzt, in Deutschland erschienen war. In Barlachs Pariser Skizzenbuch II vom November 1895 steht die Bemerkung: "Zolas Buch - Lourdes". Es ist anzunehmen, daß ihn dies Buch außerordentlich beschäftigt hat. ...
Im Februar 1896 notierte sich Barlach im Pariser Skizzenbuch XII den Namen Henrik Ibsens. Wir wissen nicht, warum er das tat. Eine Aufführung eines Dramas von Ibsen, auf die sich die Barlachsche Notiz hätte beziehen können, hat in diesem Monat in Paris nicht stattgefunden. Bei den Pariser Symbolisten war Ibsen seit des Grafen Prozors Übersetzungen von "Gespenster" und "Nora oder Ein Puppenheim" (1889), denen sich weitere anschlossen, im Gespräch. ...
Glück und Unglück sind Zwillinge, sagt Nietzsche. Barlach hat während seines Pariser Aufenthaltes 1895 die Personifizierung des "Unglücks" erfunden, ein Zentralmotiv seines frühen literarischen Schaffens. Eine eingehende Interpretation der Bedeutung dieses Begriffes bei Barlach steht noch aus. ...
Am 26. Februar 1894 sah Barlach in einer Nachmittagsvorstellung des Dresdner Residenztheaters Gerhart Hauptmanns "Traumdichtung" "Hanneles Himmelfahrt". Noch am selben Tag schilderte Barlach überschwänglich in einem Brief, der zu den unmittelbarsten Aussagen Barlachs zur Kunst anderer zählt, was er im Theater erlebt habe, welche Verwandlung mit ihm vorgegangen sei. Über die Bedeutung des Erlebnisses für Barlach gibt es keinen Zweifel. ...
Zur gleichen Zeit, als Barlach in Paris an seinem Roman "Reise des Humors und des Beobachtungsgeistes" schrieb, beendete August Strindberg, ebenfalls in Paris, einige Aufsätze, die zum Teil Anfang 1896 als Broschüre unter dem Titel "Sylva Sylvarum" im Pariser Verlag G. Bailly in französischer Sprache, in der Strindberg sie verfaßt hatte, erschienen. Einige Motive aus dem Barlachschen Romanfragment und aus den Schriften Strindbergs sind mit Nutzen vergleichbar. ...
Schluß
Der Zweck dieses Aufsatzes ist nicht, sogenannte Einflüsse auf Barlach aufzuzeigen. Er möchte vielmehr stärker ins Bewußtsein rücken, daß Barlach von Anfang an die Probleme seiner Generation erfaßt und gestaltet hat. Von der hohen Ebene seines Jugendwerks aus war der Aufschwung zu den Höhen möglich, die Barlach später betreten hat, als sein Wesenskern unverhüllter sichtbar wurde. ...