wahrnehmen

In der Emmausgeschichte ist das erste, was wir von Jesus erfahren, daß er wahrnimmt, daß hier zwei Menschen sind, die Beistand und Begleitung brauchen. Er spürt, wie ihnen zumute ist und weiß, daß sie sich aus eigener Kraft nicht aus der Depression erlösen können.

Wahrnehmung ist Voraussetzung echter Begegnung. Wenn ich mich selbst nicht wahrnehmen kann, kann ich auch andere nicht wahrnehmen. Wenn ich den anderen Menschen nicht wahrnehmen kann, kann ich ihn auch nicht begleiten. Ich laufe sonst Gefahr, ihm gut gemeinte Ratschläge zu geben oder all das zu tun, was meinem eigenen Bedürfnis in einer ähnlichen Situation entsprechen würde. Das kann aber für mein Gegenüber genau das Falsche sein, weil dieser Mensch anders ist als ich.

Um andere wahrzunehmen, muß ich meine Wahrnehmungsfähigkeit ganz allgemein entwickeln. Das läßt sich auf jedem Waldspaziergang üben. Ich versuche zum Beispiel, sehr bewußt zu sehen. Ich bleibe vor einem Baum stehen, betrachte ein einziges Blatt, nehme mir dazu Zeit. Ich verzichte auf ein Urteil. Ich will nur sehen. Oder ich lausche und versuche, die verschiedenen Geräusche wahrzunehmen: Den Gesang der Vögel, das Rauschen des Windes, Verkehrslärm. Auf ähnliche Weise kann ich alle meine Sinne schärfen: Was sehe, höre, rieche, schmecke, spüre ich?

Zur Selbstwahrnehmung gehört, daß ich meine eigenen Gefühle zulassen und ausdrücken kann. Wie ist das, wenn ich traurig oder verzweifelt bin, wenn ich glücklich bin oder erleichtert, wenn ich einsam bin oder Angst habe? Ich mache mir bewußt, wie ich normalerweise mit den eigenen Gefühlen umgehe. Kann ich Schmerz und Trauer zulassen? Kann ich mich freuen? In welchen Situationen lache oder weine ich ...?

Nehme ich die Menschen um mich wahr? Weiß ich, wie es meinen Familienangehörigen, meinen Freunden und Nachbarn geht? Wie kann ich andere präziser wahrnehmen, ohne meine eigenen Gefühle und Stimmungen in sie hineinzuinterpretieren?

Wahrnehmen ist so etwas wie "Wiedererkennen" von etwas, was ich früher bereits erlebt habe und in mir trage. Diese Muster helfen mir, Unbekanntes einzuordnen. Aber sie sind auch gefährlich. Wahrnehmungsmuster können zu Projektionen führen. Das heißt: Anstatt die andere und ihre Gefühle wahrzunehmen, nehme ich nur das wahr, was sie in mir auslöst - also meine Gefühle. Ein erster Schritt zur Zurücknahme solcher Projektionen besteht darin, daß ich sie mir bewußt mache.

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