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Franz Elsner, Vertreibung aus dem Paradies

Die Rede vom Zorn Gottes

Von Wilfried Härle

Ich halte es für einen der großen und gefährlichen theologischen Irrtümer unserer Zeit, daß die Rede vom Zorn Gottes so etwas wie ein archaisches oder mittelalterliches Fossil darstelle, von dem Theologie und Verkündigung sich möglichst klar, aber auch möglichst unauffällig zu distanzieren oder zu verabschieden hätten. "Archaisch" oder "mittelalterlich" mag ja durchaus stimmen - "biblisch" müßte man jedenfalls hinzufügen -, aber "Fossil" stimmt ganz gewiß nicht. Keine Versteinerung, sondern etwas theologisch und anthropologisch höchst Lebendiges wird angesprochen, wenn vom Zorn Gottes die Rede ist.

Ein auch nur kurzer Blick auf den heutigen Markt der religiösen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten belehrt ja rasch darüber, welche christlichen und außerchristlichen Richtungen da gefragt sind und Konjunktur haben, jedenfalls in auffälligem Maß solche, in denen die dunkle Seite an Gott, in denen Drohung und Forderung, in denen Gericht und Verdammnis (jedenfalls Gericht und Verdammnis der anderen) eine herausragende Rolle spielen.

Wir dürfen solche Phänomene gewiß nicht zum inhaltlichen Maßstab oder gar zur Quelle unserer Verkündigung und Theologie machen, aber als eine Beobachtung und Frage möchte ich jedenfalls in den Vortrag die Überlegung mitnehmen, ob religiöse Phänomene, wie wir sie in der Gegenwart wahrnehmen, nicht ein Indiz dafür sein könnten, daß ein Reden von der Liebe Gottes, bei dem der Zorn Gottes verdrängt, unterdrückt oder gar geleugnet wird, in der Gefahr steht, oberflächlich und belanglos (um nicht zu sagen: langweilig) zu werden. D. h., solche Beobachtungen könnten zum Anlaß werden, erneut und gründlich darüber nachzudenken, wie wir angemessen von Gott und vom Evangelium zu reden haben.

Daß christliche Theologie und Verkündigung nicht angemessen vom Zorn Gottes reden können, wenn sie nicht auch und zugleich von seiner Liebe reden, hat den Charakter einer allgemein anerkannten Überzeugung. In meinem Vortrag möchte ich implizit der Frage nachgehen, ob und inwiefern auch das Umgekehrte gilt, daß nämlich christliche Theologie und Verkündigung nicht angemessen von der Liebe Gottes reden können, wenn sie nicht auch und zugleich von seinem Zorn reden, so wie sie nicht angemessen vom Evangelium reden können, wenn sie nicht auch vom Gesetz reden, weil nur auf dem dunklen Hintergrund von Gesetz und Zorn das Evangelium und die Liebe Gottes als Licht erstrahlen.

  • Wilfried Härle, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft 8: Die Heilsbedeutung des Kreuzes für Glaube und Hoffnung der Christen, Tübingen: J. C. B. Mohr 1990, S. 50-69.

Weitere Literatur zum Thema:

  • Eberhard Jüngel, Die Offenbarung der Verborgenheit Gottes. Ein Beitrag zum evangelischen Verständnis der Verborgenheit des göttlichen Wirkens, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Einsichten III, S. 163-182.
  • Yong Sung Kim, Theodizee als Problem der Philosophie und Theologie. Zur Frage nach dem Bösen im Blick auf den allmächtigen und guten Gott, Münster: LIT 2002.