Wie Gustaf den Petrus das Segeln lehrte

von Wolfgang J. Krauss

Gustaf fühlte, daß es mit ihm zu Ende ging, und er machte in seinem Herzen Abschlußbilanz. Die großen und kleinen Sünden ordnete er getreulich auf der Soll-Seite, die guten Taten buchte er gewissenhaft im Haben. Dann zog er Bilanz, denn er wollte mit freiem Blick dem Lieben Gott in die Augen sehen können, und - fürwahr - seine Bilanz konnte sich sehen lassen!

Gewiß, da waren ein paar dunkle Punkte, aber die lagen viele Jahre zurück. So wie er sich kaum noch daran erinnern konnte, würde wohl auch der Herrgott, der ja so viele Sünden täglich registrieren muß, im Drange seiner großen Geschäfte ein Auge zudrücken und sie als verjährt ansehen. Dagegen wies sein Haben-Konto aber, wie er selbstgefällig feststellte, eine ansehnliche Fülle von Opfern, Liebesbeweisen, guten Taten und edlen Gesten auf, so daß er sich im Himmel wohl nicht allzu schlecht ausnehmen dürfte.

Ihm wurde mit einem Mal ganz leicht zumute - alles war hell und freundlich, kein Rheuma, keine Sorgen, keine Verpflichtungen, nichts, was seinen rasanten Höhenflug bremsen konnte. Er klopfte kurz und kräftig an die Himmelstür und war nicht weiter erstaunt, schon nach kurzer Zeit schlürfende Schritte jenseits der Tür zu hören. "Wer ist denn da?" brummelte eine tiefe, ehrfurchtgebietende Stimme. Gustaf nannte seinen Namen und Heimathafen. Die unsichtbare Stimme polterte: "Gustaf?? Es gibt so viele Gustafs! Welcher ist das nun?" Und bei diesen Worten knarrte die große Tür in den Angeln und öffnete sich einen kleinen Spalt. "Du?" sagte Petrus, "du bist ja der Segler Gustaf. Was willst du denn hier?"

Gustaf im vollen Bewußtsein seines gottgefälligen Erdenlebens antwortete etwas kurz, denn er war ärgerlich wegen der dummen Fragerei: "Rein will ich!" "So, so", meinte Petrus, "da wollen wir doch mal im Register nachsehen", und er griff nach links in ein Wolkenfach und holte Band "G" heraus. "Gustaf der Angler, Gustaf der Fußballer, Gustaf der ... - ha, hier haben wir dich: Gustaf der Segler. - Ein toller Bursche! Hier steht: faul, egoistisch, rechthaberisch, asozial, verschwenderisch, ungläubig. Für den Himmel ungeeignet. Und so etwas klopft hier noch ganz frech an. Diese Segler! Immer auf den alten Petrus schimpfen, aber selbst durch und durch verdorben."

Und nach dieser langen Rede machte er Anstalten, die Himmelstür vor Gustafs Nase zuzuschlagen. Dieser, durch das Knarren gewarnt, klemmte schnell noch den Fuß zwischen Tür und Schwelle und sprudelte hastig hervor: "Das muß ein Mißverständnis sein, lieber Petrus, sicher ist das ein anderer Gustaf." "Was", raunzte Petrus grob zurück, "ich erkenne dich doch wieder. Du bist doch der faule Strolch von der Kieler Bucht!" "Aber wieso bin ich denn faul? Ich habe mein Leben lang geschuftet und geschafft. Und weshalb bin ich ein Strolch?"

"Seht einmal diesen Patron an", erwiderte Petrus, "168 Stunden hat die Woche. Davon nur ein Drittel im Büro gesessen, die übrige Zeit gesegelt oder vom Segeln geträumt. Von den im Büro verbrachten Stunden die Hälfte vertrödelt mit Segelgedanken, die andere Hälfte vertelefoniert mit Büdelneihern, Werften, Bootsbauern und dem Wetterdienst. Du bist faul und bleibst faul, basta!"

"Schön", meinte Gustaf resignierend, "aber egoistisch bin ich bestimmt nicht. Da hast du dich verschrieben, Petrus."

"So, dann werde ich dir mal meine Notizen vorlesen:

  • Weihnachten: schenkt seiner Frau Propankocher fürs Boot statt sehnlichst gewünschtem Blauseidenen. Tochter kriegt Segel fürs Beiboot statt dringend nötiger Schuhe. Und Nietenhose statt Handtasche. Er selbst wünscht sich neuen Kompaß und kriegt ihn auch.
  • Ostern: keine Geschenke, da Rechnung für Winterplane zu bezahlen.
  • Pfingsten: kein Ausflug, dafür muß Familie Schiff schleifen und lackieren.
  • Hochzeitstag: ausgefallen wegen Vorstandssitzung im Segelverein, usw. usw.

Oder willst du noch mehr hören?"

"Nein, das genügt", sagte Gustaf zerknirscht, "wenn auch sehr subjektiv betrachtet. Schließlich hat meine Familie sich doch dabei sehr wohlgefühlt!"

"Was du nicht sagst", donnerte Petrus da zurück. "Hier steht weiter: Rücksichtsloser Barbar. Treibt tyrannisch Familie bei Regen zum Hafen. Knüppelt bei Windstärke 7 nach Schleimünde, obgleich seine Frau Mandelentzündung hat. Nutzt zu jeder Nachtstunde die Brise aus. Hat immer recht. Gibt nie Fehler zu. Wenn Bootsmanöver mißglücken, hat immer Vorschotmann unrecht. Haut unschuldige Tochter mit Tampen. Verschweigt zu Hause Extra-Gratifikation und kauft dafür Raumballon."

Nun wurde Gustaf doch ein wenig mulmig ums Herz. Er gab reumütig alles zu, bat aber, trotzdem im Himmel belassen zu werden, nachdem er nun schon die weite Anreise hinter sich hatte.

"Verdient hast du es ja nicht", brummte Petrus. "Aber das sage ich dir, wenn ich dich noch einmal so auf mich schimpfen höre wie im vergangenen Sommer, dann fliegst du wieder raus! Meckerer und Besserwisser haben hier keinen Platz."

Dann winkte er den Erzengel vom Dienst heran, dem er den Auftrag gab, Gustaf auf Kammer ein anständiges Hemd zu verpassen - vorläufig noch ohne Flügel - und ihm einen Schlafplatz im großen Wolkensaal Nr. 7 anzuweisen. "Wenn, du eingekleidet bist, meldest du dich bei mir, verstanden?" Dann überließ er Gustaf seinem Schicksal, brummte etwas vor sich hin, was so ähnlich klang wie: "Immer diese unmöglichen Segler", stieg auf eine kleine Wolke und fuhr schnell von dannen, in dem er sich mit dem rechten Fuß kräftig abstieß.

Gustaf mußte nun eine ganze Reihe ungewohnte und seinem ausgeprägten Individualismus völlig fremde Prozeduren (wie Anmelden, Registrieren, Einkleiden usw.) über sich ergehen lassen, und es war 18.00 Uhr geworden, bevor er sich durch ein tolles Gewimmel von großen und kleinen Engeln mit und ohne Flügel zu Petrus durchfragen konnte, Er sah manch bekanntes Gesicht, aber Segler waren nicht darunter.

Er traf Petrus in der Reparaturwerkstatt, wo eine Reihe Engel mit Schleifpapier und Terpentinlappen die Wolken von unten reinigten. "Sieh dir den Dreck an", brummte Petrus, "alles von eurem dämlichen Atomgestank. Hol dir einen Pinsel und weiße Farbe - damit wirst du wohl umgehen können - und erneure die Bodenanstriche."

Gustaf tat, wie ihm geheißen. Er malte bis in die späten Abendstunden, bis er zehn Wolken fertig hatte. Mit ein wenig blauer Farbe setzte er noch zusätzlich einen wunderschönen Wasserpaß ab und war mit seinem Werk sehr zufrieden. Dann bestieg er eine Wolke und versuchte, durch Abstoßen mit dem rechten Fuß damit ebenso in Fahrt zu kommen wie Petrus. Es ging ganz gut, strengte aber ziemlich an. Plötzlich machte er eine Entdeckung: Die im Himmel eingebaute, riesige Klimaanlage erzeugte einen feinen Luftstrom, der unablässig von West nach Ost zog. Gustaf steckte die Nase in die Luft und schnupperte. "Feine Brise", sagte er zu sich, "Windstärke 2 bis 3. Und nun kein Schiff, so ein Jammer!"

Dann guckte er sich die Wolken an, und dabei kam ihm ein Gedanke. Er kletterte auf eine hinauf, spreizte mit beiden Händen sein Hemd, welches vom Wind wie ein Spinnaker gebläht wurde, und - o Wunder - er machte Fahrt. Nach einigem Üben ging es ganz gut, vor allem raumschots. Nach einer Stunde hatte er auch heraus, wie er sein Hemd brassen mußte, um fast 6 Strich am Wind zu segeln.

Das genügte, um in schwungvollen Bogen kreuz und quer durch den Himmel zu schippern, bis - ja bis er auf einmal mit halbem Wind auf Backbordbug Petrus in die Quere kam, der sich mühsam mit dem Fuß Meter für Meter vorwärtsstieß. "Dampfer von rechts", blitzte es in seinem Gehirn, aber da bumste es schon, so daß Petrus fast das Gleichgewicht verlor und furchtbar schimpfend auf Gustaf losfuhr, wieso er so schnell und ohne sich abzustoßen durch den Himmel jage.

Gustaf fühlte seine große Stunde schlagen. Er erklärte Petrus das Geheimnis, mit dem Hemd zu segeln, was diesen mächtig beeindruckte, denn er war schon recht alt und nicht mehr so gut zu Fuß. Und ein wenig später sah man beide mit geblähten Hemden auf die Kreuz gehen, wobei Gustaf wie auf Erden seine Kommandos brüllte und Petrus als gehorsamer Schüler diesen Kommandos Folge leistete.

Von diesem Zeitpunkt an waren die beiden unzertrennliche Freunde, und schon nach kurzer Zeit übertrug Petrus seinem Segellehrer die Wetterregulierung für die Erde. Mit dem Erfolg, daß es nur noch an Wochentagen während der Nachtstunden regnete, während an den Wochenenden und zur Urlaubszeit strahlendes Sonnenwetter mit prächtigem Nordost herrschte.

Und noch eine Auswirkung hatte dies bedeutsame Ereignis: Alle Engel wollten segeln und da ihre Hemden dafür meist zu kurz oder zu knapp waren, setzte sich schlagartig der neueste krinolinenartige Maxi-Look in der Himmelsmode durch, für den Gustaf selbst die Entwürfe ...

"Bautz" - Gustaf verspürte einen leichten Schlag und wachte auf. Frieda hatte ihn angestoßen. "He Käpt'n", sagte sie, "wach auf! Was zuckst du denn dauernd mit dem linken Bein und brüllst 'Raum'?"

Gustaf schnappte nach Luft und wischte sich mit dem Zipfel des Schlafsacks den Schweiß von der Stirn - mein Gott, wie heiß war es in der Kajüte! Er mußte schlecht geträumt haben. Aber ist das ein Grund, jemanden gleich in die Rippen zu knuffen? Immer diese Frauen!

Aus: Wolfgang J. Krauss, Neue Geschichten vom Segler Gustaf, Bielefeld 5. Aufl. 1976, S. 92-95.