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Streckenplan 1943

Am 1. Januar 1872 trat die Norddeutsche Maß- und Gewichtsordnung vom 17. August 1868 in Kraft. Sie bescherte dem Norddeutschen Bund und dem inzwischen gegründeten Deutschen Reich das metrische System und das Dezimalsystem einschließlich der Vorsätze für Maßeinheiten. Auch für die Preußischen Staatseisenbahnen und später die Deutsche Reichsbahn hatte das Folgen: die Gleiszählung bei Eisenbahnknoten wie Büchen und Ratzeburg folgte fortan dem Dezimalsystem - freilich ohne Punkt zwischen den Zahlen.

Die Zehnernummern der Gleise vor dem Bahnhof Ratzeburg, Gleis 11 und 12, bedeuten also: Gleis 1-2 der Strecke 1 (Richtung Bad Oldesloe bzw. Hagenow, "Kaiserbahn").

Die Zwanzigernummern der Gleise hinter dem Bahnhof Ratzeburg, Gleis 21 und 22, bedeuten also: Gleis 1-2 der Strecke 2 (Richtung Lüneburg und Lübeck).

In einem alten Waggon auf stillgelegtem Gleis begann im Jahr 1998 die  Jugendarbeit in Ratzeburg für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Sie war von 2006-2009 unter dem Titel "Gleis 21" Bundesmodellprojekt.

In Ratzeburg gibt es mittlerweile zwei Kinder- und Jugend-
einrichtungen in der Trägerschaft des Diakonischen Werkes:
In den Häusern Gleis21 und Stellwerk werden zusammen mit dem Jugendmigrationsdienst vielfältige Angebote für junge Menschen geschaffen.

Gleis 21

Als das Eisenbahnfieber in Deutschland einsetzte, wollten auch die Lübecker eine Bahn haben, und zwar eine nach Hamburg, dem natürlichen hanseatischen Handelspartner und zugleich dem Tor zur Welt.

Eine solche Verbindung durch das damals dänische Stormarn wollte der dänische König nicht erlauben, weil er seit 1844 eine "eigene" Bahn hatte von Kiel nach Altona. Warum sich selbst Konkurrenz schaffen? (Wahrscheinlich einer von vielen Gründen, warum die Lübecker sich seit Ewigkeiten gegenüber Kiel immer zurückgesetzt fühlen.)

Nach zähen Verhandlungen auf höchster politischer Ebene (Deutscher Bund) konnte man dem dänischen König das Zugeständnis abringen, dann wenigstens eine Anschlussbahn an die Strecke Berlin-Hamburg zu genehmigen. Der kürzeste Anlaufpunkt war die Station Büchen, das seit 1846 einen Bahnhof hatte.
Dass Büchen ein Punkt auf der Strecke zwischen Berlin und Hamburg wurde, verdankt sich der Eiszeit und bestimmten eisenbahntechnischen Defiziten.

Als die Hamburg-Berliner Eisenbahngesellschaft ihr erstes Streckenstück von Hamburg nach Bergedorf eröffnete, folgte sie damit hinsichtlich des Streckenverlaufs dem herkömmlichen Landweg (der heutigen Bundesstraße 5), der dann über Geesthacht und Lauenburg weiter Richtung Osten führt (die spätere Transitstrecke nach Berlin). So sollte ursprünglich auch das  neue Verkehrsmittel Eisenbahn seinen Weg nehmen. Allerdings standen dem topographische Schwierigkeiten im Wege.

Die Eisenbahn generell, speziell aber die des 19. Jahrhunderts, hat Schwierigkeiten, Steigungen gut überwinden zu können. Sie verträgt nur ganz sanfte Anstiege (deshalb die riesige Schleife in Rendsburg). Für Ochsenkarren und Pferdekutschen ließ der Landweg unten entlang des Elbtals sich gut nutzen. Für die Eisenbahn war das nichts. Die Eiszeit hatte aber ein schönes Plateau etwas weiter nördlich geformt. Das machte man sich jetzt zunutze und baute die Strecke dort oben mit einem großzügigen Schwenk durch den Sachsenwald und eben über das winzig kleine Büchen, genauer gesagt durch die unbebaute große Lücke zwischen Pötrau und Büchen Dorf. So entstand später die berühmte Lübeck-Büchener Eisenbahngesellschaft (die eigentlich gern eine Lübeck-Hamburger Eisenbahngesellschaft gewesen wäre und dies später auch wurde).

Die Strecke von Lübeck nach Büchen verläuft eigentlich pfeilgerade von Nord nach Süd. Eine Anbindung von Ratzeburg war gar nicht vorgesehen. Wozu auch? Anders als Mölln mit Gewerbe und Hafen war Ratzeburg güterverkehrstechnisch komplett uninteressant. Weil das Gejammer aber kein Ende nahm, machte man schließlich einen Schlenker etwas näher heran an die Stadt (deshalb der doppelte Seitenwechsel der Bahn über die B 207 südlich von Buchholz und nördlich von Fredeburg) und verzichtete auf die Durchfahrt bei Harmsdorf, die ursprünglich vorgesehen war. Das war der Stand ab 1851.

1897 kam nun die Königlich Preußische Eisenbahnverwaltung mit Schienen von Südosten her auf Ratzeburg zu durch den Bau einer schnellen Direktverbindung zwischen der Reichshauptstadt und dem Reichskriegshafen. Erstens entstanden dabei große Gleisanlagen vor dem Ratzeburger Bahnhof (1 Gleis liegt in Teilstücken noch heute dort im Rasen), und zweitens jammerten nun die Möllner, dass die schöne neue Bahn sie umging (zum Trost bekamen sie zwei Jahre später, also 1899, die Anschlussbahn nach Hollenbek).

Was Ratzeburg betrifft, war dort eisenbahntechnisch jetzt richtig viel los, zumal kurze Zeit später (1903) dann auch die Ratzeburger Kleinbahn AG tätig wurde und vom Bahnhof "Ratzeburg Land" aus die Bahn durch den Fuchswald nach "Ratzeburg Stadt" baute (verlängert 1908 bis Klein Thurow).

Damit man bei der Vielzahl der Gleise die Orientierung nicht verlor, machte man Folgendes: "Zwecks Übersichtlichkeit nummerierte man die Gleise vor dem Bahnhof mit Zehnern (Gleis 11 und 12 in Richtung Bad Oldesloe bzw. Hagenow), die Gleise dahinter Richtung Lüneburg und Lübeck mit Zwanzigern (Gleis 21 und 22)" (http://www.erlebnisbahn-ratzeburg.de/region/streckenhistorie.html).

Die Lübeck-Büchener Eisenbahn wurde 1938 "verreichlicht" (wie man damals sagte). Ihre Stammstrecke existiert noch heute. Die sog. Kaiserbahn vor dem Bahnhof verschwand nach und nach: Anfang der 60er Jahre wurde der Personenverkehr aufgegeben, Anfang der 70er Jahre auch der Güterverkehr. Die Strecke Richtung Oldesloe wurde abgebaut. Der Rest Richtung Südosten blieb als sog. Rübenbahn bis Hollenbek, der letzten Station vor der Zonengrenze, in Betrieb und wurde dann später zur Draisinenbahn.

Die Unterscheidung von Gleisen vor und hinter dem Ratzeburger Bahnhof war also schon seit Jahrzehnten nicht mehr erforderlich, blieb aber doch bestehen, was dann zu den kuriosen Ansagen führte: "Einfahrt auf Gleis 21 hat ...", obwohl doch nur zwei Gleise zu sehen waren.

Hasko von Bassi